Lebensverlängerung im Pflegebett - ein Behandlungsfehler? Gerichte sehen Ärzte und gesetzliche Betreuer in der Verantwortung: In einem betreffenden Fall musste das Oberlandesgericht München über diese Frage im Kontext künstlicher Ernährung befinden. Wann stellen lebensverlängernde Maßnahmen einen Schaden dar? Und wie sorgt man vor, um sinnlose Qualen Betroffener zu verhindern?
Die Situation: Austherapiert, aber nicht sterben dürfen?
Obwohl schwer dement und unheilbar krank, wurde der unter Betreuung stehende Senior von 2010 bis zu seinem Tode 2011 über PEG-Sonde ernährt. Eine medizinische Notwendigkeit dafür lag nicht mehr vor, auch hatte der Sohn der künstlichen Ernährung nie zugestimmt. Und verklagte den Hausarzt - auf Schadensersatz von ca. 53.000 Euro für Pflegeheimkosten sowie Schmerzensgeld von 100.000 Euro. Hier sei Leiden grundlos verlängert und allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt worden: Der Vater habe verkrampft im Pflegebett gelegen und nicht mehr am Leben teilgenommen. Insofern stellte die künstliche Sonderernährung einen rechtswidrigen körperlichen Eingriff und Behandlungsfehler dar. Stattdessen hätte der Hausarzt, so der Sohn, sein Okay für ein palliativmedizinisch betreutes Sterben mit Beendigung der Sonderernährung geben müssen, da er zur Änderung des Therapieziels verpflichtet gewesen sei.
Hausarzt: Betreuer wünschte künstliche Ernährung
Der Hausarzt wies den Vorwurf der Pflichtverletzung von sich: Der Betreuer des alten Mannes habe die Sondenernährung ausdrücklich gewünscht. Außerdem berief sich der Hausarzt auf den Grundsatz In dubio pro vita - im Zweifel für das Leben. Er räumte ein, dem Betreuer in mehreren Gesprächen den Gesundheitszustand des Seniors geschildert sowie die Beendigung der Sondenernährung diskutiert zu haben. Das Landgericht München als erste Instanz verneinte den Schadensersatzanspruch, da ein kausaler Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und dem Schaden - das Weiterleben des Mannes - nicht nachgewiesen werden konnte. Darüber hinaus stellte ein Sachverständigengutachten des Landgerichts jedoch durchaus eine Pflichtverletzung des Behandlungsvertrages fest.
Berufung: Arzt informierte Betreuer nicht umfassend
Der Sohn ging in die Berufung, worauf der Erste Senat des Oberlandesgerichts (OLG) München bestätigte: Ja, der Behandlungsvertrag wurde verletzt. Denn der Hausarzt hätte den bestellten Betreuer gem. § 1901 b Abs. 1 BGB umfassend informieren müssen. Als behandelnder Arzt eines nicht länger einwilligungsfähigen Patienten sei er verpflichtet gewesen, ein Fortsetzen der PEG-Sondenernährung im Stadium finaler Demenz oder deren Beendigung sehr gründlich mit dem Betreuer zu besprechen - inklusive Änderung des Behandlungsziels auf palliative Versorgung mit der Folge des alsbaldigen Todes des Mannes. Dies war, auch nach Angaben des Arztes, unstreitig nicht erfolgt - also bejahte der Senat, dass der Arzt seine Pflicht, den Betreuer umfassend zu informieren, verletzt hatte.
Arzt: Pflicht zum Behandlungsabbruch?
Dies bedeutet konkret: Werden medizinische Maßnahmen - wie hier im Stadium finaler Demenz - nicht ausreichend mit Betreuer oder verantwortlichen Angehörigen besprochen, können lebensverlängernde Maßnahmen einen Schaden im Rechtssinn darstellen. Was jedoch nicht bedeutet, dass ein Arzt zum Abbruch der Behandlung verpflichtet ist! Vielmehr muss ein Arzt Betreuern bzw. Verantwortlichen eine Grundlage an die Hand geben, sprich ausreichende Informationen. Nur dann können diese verantwortungsbewusst entscheiden. Hätte sich der Betreuer im konkreten Beispiel bei ordnungsgemäßer Erörterung und Information für ein Fortsetzen der PEG-Ernährung entschieden? Dies blieb nach Beweisaufnahme ungeklärt, was das Gericht zum Nachteil des Beklagten wertete. Warum? Der Arzt ist hier in der Beweislast - und der Hausarzt des dementen Seniors konnte den Beweis, dass er den Betreuer umfassend aufgeklärt hatte, nicht führen.
Schaden durch lebensverlängernde Maßnahmen
Darüber hinaus, so das OLG, würde das Integritätsinteresse von Patienten allein schon dadurch verletzt, dass diesen über längere Zeit ohne wirksame Einwilligung Nahrung und Flüssigkeit per Magensonde verabreicht werden. Dies allein rechtfertige ein Schmerzensgeld - ein vererblicher Anspruch, den der Sohn im konkreten Fall für sich geltend machen kann. Hier berücksichtigte das Gericht, dass der Vater des Klägers im Pflegebett über nahezu zwei Jahre an Dekubiti und weiteren schweren Erkrankungen litt sowie durch degenerative Hirnerkrankung in Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit eingeschränkt war. Und der Ersatz der Pflegeheimkosten? Diese Forderung wiesen die Richter zurück, da der Sohn den Vermögensschaden nicht ausreichend darlegen konnte. Das Urteil des OLG München vom 21.12.2017, 1 U 454/17, ist noch nicht rechtskräftig. Beide Parteien haben Revision eingelegt, so dass dem Bundesgerichtshof die letztliche Entscheidung zukommt.
Rechtzeitig handeln: Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung
Alles in allem drängt sich folgende Frage auf: Wie konnte es soweit kommen? Wieso wurde die künstliche Ernährung des Mannes sinnlos verlängert, obwohl keine Aussicht auf Besserung seines Gesundheitszustands bestand? Zugegeben - der Hausarzt hat sich durch mangelnde Aufklärung der Pflichtverletzung schuldig gemacht. Aber subjektives Rechtsempfinden nimmt auch den Sohn in die Pflicht: Eine wasserdichte Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung hätten eventuell das Schlimmste verhindert. Einschließlich des Bestelltwerdens eines gesetzlichen Betreuers - womit Angehörige die Kontrolle über Lebensentscheidungen Pflegebedürftiger aus der Hand geben. 2016 hat der Bundesgerichthof (BGH) die Anforderungen an eine Patientenverfügung neu - in § 1901a BGB - definiert: Demnach reicht es nicht länger aus, darin bestimmte Krankheitsbilder und Maßnahmen am Pflegebett auszuweisen bzw. lebensverlängernde wie künstliche Ernährung abzulehnen.
BGH rät: Bei Patientenverfügung juristischen und ärztlichen Rat einholen
Im konkreten BGH Fall sprach sich die Patientin in ihrer Patientenverfügung gegen lebensverlängernde Maßnahmen für den Fall eines Hirn-Dauerschadens aus. Da ihre Ärzte nicht von diesem Dauerschaden ausgingen, legten sie der Betroffenen nach Herzversagen eine Magensonde. Aber: Ein Hirnschaden durch epileptische Anfälle kam hinzu, die Frau im Pflegebett konnte sich nicht mehr äußern. Ihre Töchter waren uneins: Künstliche Ernährung beenden oder nicht? Behandelnde Ärztin und Tochter mit Vorsorgevollmacht setzten sich durch - die künstliche Ernährung wurde fortgesetzt. Die Quintessenz: Nur dann, wenn eine Patientenverfügung Krankheitsbilder (mit Grundleiden und Nebenerkrankungen) beispielhaft und trotzdem konkret thematisiert sowie zu künstlicher Ernährung, Beatmung und Wiederbelebung Stellung nimmt, besteht Aussicht, dass dem eigenen Willen im Ernstfall entsprochen wird - um in Würde zu sterben (https://www.pflegebetten-24.de/pflegebetten-pflege-ratgeber/bgh-urteil-patientenverfuegung-so-wird-ihre-erklaerung-wasserdicht).
Patienverfügung und Vorsorgevollmacht: Eigene Wünsche konkretisieren!
Hilflosigkeit imPflegebett und Sterbebett kann jeden treffen. Weshalb rechtzeitige Vorsorge fragt: Will ich für mich, trotz Schwersterkrankung, ein maximal langes Leben mit Hilfe lebensverlängernder Maßnahmen wie künstlicher Ernährung? Wer wird im Ernstfall nach meinen Wünschen handeln, wenn ich nicht mehr selbst entscheiden, mich nicht mehr äußern kann? Es macht Sinn, auch bestehende Patientenverfügungen zeitnah im Rahmen medizinischer und juristischer Beratung zu überprüfen, damit diese im Pflegebett unmittelbare Bindungswirkung entfalten. Je konkreter und detaillierter, desto besser, weil sich wenig ausführliche Formulierungen nicht als Handlungsanweisungen an den Arzt eignen. Dabei sind Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht als separate Dokumente anzulegen. Nur so weiß der Angehörige mit Vorsorgevollmacht, ob er am Pflegebett aktiv werden, und der Arzt, wie er - nicht zuletzt juristisch wasserdicht - handeln kann.
Richtlinien des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz zum Thema Patientenverfügung finden Sie hier: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Patientenverfuegung.html
Lebensverlängerung im Pflegebett: Wer trägt die Verantwortung?
Kommentar schreiben
Passende Artikel